Sind anonyme Polizisten ein Verstoß gegen Menschenrechte?

So absurd das im ersten Augenblick klingt, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg jedoch genau das bejaht. In seiner Entscheidung vom 09.11.2017 stellte der EGMR fest, dass polizeiliche Maßnahmen gegen Art. 3 EMRK verstoßen und damit rechtswidrig sind, wenn wegen der fehlenden Möglichkeit Polizisten im Einsatz zu identifizieren, nicht aufgeklärt werden kann, ob strafrechtlich relevante Taten durch die Einsatzkräfte erfolgt sind. Er verurteilte die Bundesrepublik Deutschland zur Zahlung von rund 17.000 € für den Ersatz der Verfahrenskosten der beiden Kläger.

Was war geschehen?

Am 09.12.2007, also fast 10 (!) Jahre vor der Entscheidung des EGMR, waren zwei Fans von 1860 München, bei einem Fußballspiel gegen den roten Lokalrivalen. Dort waren zur Vermeidung von gewalttätigen Auseinandersetzungen auch 227 zum Teil vermummte und damit anonyme Polizisten anwesenden. Nach dem Spiel kam es zu Auseinandersetzungen, weshalb die Polizei sich zu einem „schlichtenden“ Einschreiten gezwungen sahen. Dabei setzten die Beamten Gummiknüppel und Pfefferspray auch gegen Unbeteiligte ein, wodurch die Kläger verletzt wurden. Beide Kläger konnten zweifelsfrei erkennen, dass es bei den Verletzern um Polizeibeamte handelte. Eine weitere Identifikation konnte nicht erfolgen.

Das vom Polizeieinsatz vorhandenen Videomaterial war unvollständig. Entscheidende Sequenzen fehlten auf den den Kläger im Verfahren zur Verfügung gestellten Aufnahmen. Das original Videomaterial war zwischenzeitlich gelöscht worden. Auch die Befragung der Polizeibeamten erbrachte nichts.

Die Kläger stellten Strafanträge. Die eröffneten Verfahren wurden von der Staatsanwaltschaft München I eingestellt. Beschwerden bei der Generalstaatsanwaltschaft hatten ebenso wenig Erfolg, wie ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung beim OLG in München. Nach dem hier alle in Frage kommenden Rechtsmittel wahrgenommen wurden, wandten sich die Kläger Anfang 2012 an das Bundesverfassungsgericht. Auch dies vermochte in seiner Entscheidung vom 23.03.2015 keinen Verletzung von Grundrechten erkennen.

Für die deutsche Justiz war aus Mangel an Beweisen schlicht nicht festzustellen, ob das Handeln rechtswidrig war. Als letztes Rechtsmittel wandten sich die Kläger an den EGMR.

Was urteilte der EGMR?

Der EGMR bestätigte zunächst, dass nicht zu klären ist, ob das Handeln der Polizisten wirklich so ablief, wie von den Klägern geschildert. Damit kann das Handeln auch nicht als materiell rechtswidrig anzusehen.

Damit gab sich der EGMR, anders als die Deutsche Justiz nicht zufrieden. Denn er erkannte im Handeln der Polizei und Ermittlungsbehörden formelle Verstöße gegen Art. 3 EMRK.

Polizisten, die in einen großen Gruppe im Einsatz sind, müssen identifizierbar sein, damit das effektiver Rechtsschutz gegen ihr Verhalten möglich ist. Ausdrücklich benennt der EGMR die Möglichkeit durch Nummer an der Uniform eine Identifikation zu ermöglichen. Dies ist essentiell um spätere Ermittlungen zu ermöglichen.

In diesem Zusammenhang führt der EGMR belastend dann, dass das Filmmaterial nur geschnitten dem Ermittlungsverfahren zugänglich gemacht wurde. Ebenso stellt der Ablauf des Ermittlungsverfahren als solches einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK dar. Nicht nur, dass Fehler und Unzulänglichkeiten bei den Ermittlungen auftraten. Vielmehr wurde das Verfahren als solches, bei dem Polizisten gegen Polizisten ermitteln, kritisiert. In seinem Sondervotum legt der azerbaijanische Richter Latif Hüseynov einen Schwerpunkt auf die fehlenden Unabhängigkeit und Unbefangenheit der Ermittlungen, wenn diese nicht durch einen neutralen Dritten erfolgt.

Zusammenfassend stellt der EGMR fest, dass Defizite in den Ermittlungen, durch die eine eindeutige Sachverhaltsaufklärung oder eine Feststellung der verantwortlichen Personen nicht möglich ist, formell einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK begründen.

Reichweite der Entscheidung

Die EMRK ist steht im Rang unter dem Grundgesetz auf einer Stufe mit einfachen Bundesgesetzen. Sie geht damit landesgesetzlichen Regelungen vor. Die Rechtsprechung des EGMR ist im konkreten Fall verbindlich, hat aber keine allgemeine Wirkung darüber hinaus. Sind sind jedoch als Auslegungshilfe der EMRK, die über Landesgesetzen steht und mit dem übrigen Bundesrecht konkurriert, heranzuziehen.

Für die Kennzeichnung der Polizisten sind über das jeweilige Polizeirecht die Bundesländer zuständig. Sie müssen also entscheiden, welche Schlüsse sie aus dem Urteil ziehen wollen. Nach der Entscheidung des EGMR fällt es schwer, sich noch gute Gründe vorzustellen, die gegen einen hinreichende und effektive Identifizierung von Polizisten bei Großeinsätzen spricht. Nicht nur NRW, was jüngst die Einführung der Identifikationsnummer zurückgenommen hat, wie Johannes Graf von Luckner in seinem Beitrag auf verfassungsblog.de ausführt, wird sich wohl bald mit dem dem Thema wieder auseinandersetzen müssen.

Was den Ablauf des Ermittlungsverfahrens gegen Polizisten anbelangt, wird wohl eher der Bundesgesetzgeber über eine Anpassung der StPO gefordert sein. Allerdings sollten hier die Hoffnungen nicht zu groß sein. Die Tendenzen in der Bundesgesetzgebung sind seit Langem eher polizeifreundlich.

Jedenfalls sind Großeinsätze der Polizei aus der Perspektive dieser Entscheidung mit einem äußerst kritischen Blick betrachtet werden.

Weiteres zur Entscheidung findet man bei BuzzFeed oder bei Faszination Fankurve.